Hunger
Hunger. Stufe für Stufe schob sie sich die Treppe hinauf. Pizza Funghi Salami, Sternchen "Salami" gleich Blockwurst.
Die Pilze hatten sechs Monate in einem Sarg aus Blech, abgeschattet vom Sonnenlicht, eingeschläfert in einer Soße
aus Essig, billigem Öl und verschiedenen Geschmacksverstärkern, geruht. Es war nur ein Augenblick, in dem sie die
Welt erblickt hatten, dann verschwanden sie wieder in einem 450° heissen Ofen. Die Pizza ruhte auf ihrer rechten
Hand, und in ihrer Linken hielt sie eine jener nichtssagenden Plastiktüten. Wie fast jeden Abend hatte sie noch das
weisse Häubchen aus dem Krankenhaus auf dem Kopf. Das Fettgewebe ihrer Schenkel verspürte einen Heisshunger auf das
müde Öl, das bei jedem Schritt sanft auf den Salamischeiben schaukelte. Die kleinen Zellen ihrer heissen Oberschenkel
waren gierig, als sie im Treppenhaus ein Geräusch hörte. Punkt 21 Uhr 53 hatte Herr Erlenkötter die Wohnungstür hinter
sich geschlossen. In der Linken hielt er die Leine von Gershwin, der die Stadt und noch mehr die Ausflüge um diese
Tageszeit liebte. Herr Erlenkötter verschloss wie jeden Abend zuerst das obere Sicherheitsschloss und dann das
Türschloss. Danach schnippte er den Schlüssel mit einer schnellen Bewegung in das dafür vorgesehene Lederetui.
Die Hand, die die Leine des Hundes hielt, half der anderen, und nachdem er das Etui in seine rechte Jackentasche
gesteckt hatte, begann für beide der Abend. Er begann für Gershwin, der schon an der Leine zog, weil er den scharfen
Geruch von Desinfektionsmitteln und die süssen Ausdünstungen der Blondine von unten gerochen hatte, und er begann
für Erwin.
Sie hörte das Schliessen der Tür, als sie gerade den Briefkasten öffnete. Zwei Rechnungen und ein Brief fielen
auf den Boden. Einzig ein zweifach gefalteter Prospekt machte sich im Briefkasten breit. Es hatte alles verdrängt
und wartete darauf, in liebevolle, interessierte Finger genommen und von neugierigen Pupillen gelesen zu werden.
Mit einem entschlossenen Griff zerdrückte sie ihn und riss ihn aus dem Metallkasten. Sie knüllte ihn zusammen
und warf ihn in einen Blecheimer zu Hunderten von Zetteln. Wartenden, die irgendwann einmal von einem Handschuh
nach oben gerissen wurden, um dann im dunklen Häckselwerk eines LKW zu landen. Dann begann jene feuchte Reise,
an deren Ende wieder ein neuer Prospekt stand. Nicht häufig spürte Gershwin den Geruch der Blondine im Treppenhaus
in dieser Präsenz. Manchmal standen noch vereinzelte Geruchsmarken zwischen dem Geländer. Aber es war nicht der
Duft der Gegenwart. Es war eine Vorvergangenheit, das Gefühl, zu spät dazusein. Für einen Moment eine Vergangenheit
zu empfinden, die in 10 Minuten gänzlich der Geschichte des Alltags anheimfiel. Einer Geschichte, die von niemand
geschrieben und die in jeder Sekunde milliardenfach an anderen Orten gelebt wird. Zwischen all der Süsse und
Schärfe, die er von diesem Geruch kannte, roch er einen Anflug von Blut. Hellem, rotem Blut. Sein Atem
beschleunigte sich. Während seine Nüstern diesen klaren Geruch von Hühnchen bis in die letzte Kapillare
seiner Lunge einsaugte. Er musste dieses Hühnchen für einen Augenblick zwischen seinen Kiefern halten und
seine Zähne in das tiefgefrorene Fleisch schlagen, auch wenn er wusste, dass Erwin dieses Verhalten niemals
tolerieren würde und sowohl der Abendspaziergang als auch die Hundeplätzchen in den nächsten Tagen entfallen
würden. Langsam schob sich die Krankenschwester, in der einen Hand die Pizza, in der anderen die Einkaufstüte,
nach oben. Sie waren noch eine Stufe voneinander entfernt. Gershwin nahm sein Hundeherz zusammen und sprang.
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